Spec-Driven Development: Eine neue Evolutionsstufe der Softwareentwicklung?
Spec-Driven Development (SDD) ist derzeit eines der spannendsten Konzepte im Kontext moderner Softwareentwicklung. Der Begriff taucht zunehmend im Umfeld von Künstlicher Intelligenz auf und verspricht, den bisherigen Entwicklungsprozess grundlegend zu verändern. Statt Code manuell Zeile für Zeile zu schreiben oder wie beim Vibe-Coding das Programmieren auf Basis vager Anweisungen der KI zu überlassen, stellt SDD einen viel weitreichenderen Paradigmenwechsel in Aussicht: Die Spezifikation wird zum zentralen Artefakt der Softwareentwicklung – der Code entsteht daraus als abgeleitetes Ergebnis und rückt im Entwicklungsprozess gegenüber der Spezifikation in den Hintergrund.
SDD verfolgt die Frage, ob wir mit Hilfe von KI einen Abstraktionssprung weg vom Code schaffen können – hin zu einer Ebene, auf der Entwickler:innen nur noch beschreiben, was ein System tun soll. Das Wie wird dann von KI-Systemen aus der Spezifikation abgeleitet und umgesetzt. Damit verschiebt sich der Fokus vom Programmieren hin zur modellhaften Beschreibung von Anforderungen, Logiken und Zusammenhängen. Die Verbindung zur Modellgetriebenen Softwareentwicklung (MDSD) wird später im Artikel noch aufgegriffen.
In der Theorie klingt dieser Ansatz vielversprechend. Doch wie reif sind die entsprechenden Tools wirklich? Welche Potenziale lassen sich heute schon praktisch nutzen? Und was bedeutet das für den Alltag in der Softwareentwicklung? Um diese Fragen zu beantworten, hat ein Team von Senacor-Berater:innen in einer fünftägigen internen Intermission aktuelle SDD-Werkzeuge auf den Prüfstand gestellt. Der Fokus lag dabei auf einem praxisnahen Use Case, mit dem sich die Leistungsfähigkeit und Reife der Tools konkret erproben ließ.
Dieser Blogartikel gehört zu einer zweiteiligen Serie. Im vorliegenden ersten Teil werden die theoretischen Grundlagen vorgestellt und erklärt, was SDD eigentlich ist. Im zweiten Teil stellen wir anschließend einen Erfahrungsbericht aus dem praktischen Umgang mit drei aktuellen SDD-Tools vor und ordnen ein, welche Rolle SDD heute bereits einnehmen kann und wo langfristiges Potenzial liegt.
Was ist Spec-Driven Development?
1. Vom Vibe-Coding zu SDD
Seitdem leistungsstarke Sprachmodelle wie ChatGPT, Claude oder Gemini der breiten Öffentlichkeit zugänglich sind, steht die Frage im Raum, wie sich künstliche Intelligenz produktiv in der Softwareentwicklung nutzen lässt. Ein erster, populärer Ansatz ist das sogenannte Vibe Coding. Bei diesem Vorgehen formulieren Entwickler:innen ihre Anforderungen in natürlicher Sprache und überlassen anschließend sowohl den Lösungsweg als auch den möglichen Ergebnisraum vollständig der KI. Die KI-generierten Codeänderungen bleiben eine Blackbox, die der Mensch nicht im Detail nachverfolgt.
Anders als beim klassischen Coden oder bei Code‑Completion‑Tools schreibt der Mensch keine Zeile Code selbst, sondern überlässt der KI das Programmieren und verlässt sich auf deren Output. Damit zielt Vibe Coding darauf ab, Entwicklung radikal zu vereinfachen: Man gibt der KI eine Idee oder ein Ziel vor, lässt sie losprogrammieren, testet das Ergebnis und iteriert — ohne den generierten Code aber vollständig zu durchdringen.
Vibe Coding senkt die Einstiegshürde für Software‑Erstellung stark ab: Auch Personen mit wenig oder keiner Programmiererfahrung können auf diese Weise Web‑Apps oder kleine Tools erzeugen. Für schnelle Prototypen, Freizeitprojekte oder Experimentierideen kann das durchaus attraktiv sein.
Allerdings leidet das Vibe Coding an einigen zentralen Schwächen. Die erzeugten Codebasen sind häufig schwer wartbar, intransparent oder fehleranfällig, da Entwickler:innen auf Testing statt auf Verständnis oder Review vertrauen. Bei komplexen fachlichen Anforderungen, Architektur, Datenmodellierung, Sicherheit oder mehreren zusammenhängenden Komponenten stößt Vibe Coding sehr schnell an Grenzen: Die KI kann zwar Boilerplate liefern, trifft in struktur‑ oder domänenspezifischen Kontexten jedoch nicht die nötige Tiefe oder Präzision. Aus diesen Gründen reicht Vibe Coding für viele professionelle Projekte nicht aus.
Spec-Driven Development ist der nächste Evolutionsschritt, der diese Schwachstellen aufgreift: Statt der KI nur eine vage Idee zu übergeben, wird eine belastbare, überprüfbare Spezifikation erstellt, aus der anschließend Software generiert wird. Der Mensch formuliert klar, was ein System leisten soll. Die KI übernimmt die Aufgabe, diese Spezifikation in funktionsfähige Software zu überführen. Im Unterschied zum Vibe Coding wird das Ergebnisartefakt dabei nicht blind akzeptiert, sondern bleibt überprüfbar und nachvollziehbar. Eine gute Spezifikation führt zudem zu nachvollziehbareren, konsistenteren Resultaten. Die Rolle des Entwicklers verschiebt sich damit vom reinen Coder hin zum Spezifikator, der das Systemverhalten auf höherer Abstraktionsebene gestaltet.
2. SDD als Paradigmenwechsel in der Softwareentwicklung
Spec-Driven Development ist mehr als nur ein neuer Begriff im Umfeld generativer KI. Es handelt sich um eine neue Herangehensweise an Softwareentwicklung, um einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Im Zentrum steht nicht mehr der Code, sondern die Spezifikation. Die spielt in der klassischen Softwareentwicklung eine untergeordnete Rolle als grobe Anforderungsskizze oder als nachträgliche Dokumentation. Beim Spec-Driven Development hingegen definiert die Spezifikation klar und eindeutig, was ein System leisten soll. Alles Weitere übernimmt die Maschine. Damit verlagert sich die menschliche Rolle von der Implementierung zur präzisen Beschreibung fachlicher Anforderungen, und die Spezifikation steigt vom Nebenartefakt zum zentralen Steuerungsinstrument der Entwicklung auf.
Diese Verschiebung lässt sich gut mit einem Blick auf die bisherigen Abstraktionsstufen der Softwareentwicklung veranschaulichen. Heute schreiben Entwickler:innen Code in klassischen Programmiersprachen wie Java, C# oder Python. Damit ein Prozessor diesen ausführen kann, muss der Code zunächst von einem Compiler in Maschinencode übersetzt werden. Spec-Driven Development geht einen Schritt weiter: Die menschliche Arbeit verlagert sich eine Ebene nach oben. Der Mensch formuliert eine Spezifikation, die von einer KI in Code übersetzt wird und dieser wird dann wie gehabt vom Compiler weiterverarbeitet. Die KI übernimmt damit eine Rolle, die mit der des Compilers vergleichbar ist, nur auf einer höheren Abstraktionsebene. Das Schreiben von Code wird zur nachgelagerten, automatisierten Tätigkeit.
In der klassischen Softwareentwicklung gilt der Code als „Single Source of Truth“. Das heißt: Was am Ende läuft, ist das, was in den Codezeilen steht. Spezifikationen hingegen gelten oft als lose Dokumente, die zu Beginn hilfreich sind, im weiteren Verlauf aber selten aktualisiert oder vollständig synchron gehalten werden. Spec-Driven Development kehrt diese Gewichtung um. Die Spezifikation wird zum zentralen Wahrheitsdokument, aus dem sowohl der initiale Code als auch zukünftige Änderungen generiert werden.
3. Reifegrade von SDD
Wie konsequent ein Entwicklungsprozess diesem Gedanken folgt, lässt sich an unterschiedlichen Reifegraden ablesen. Eine übersichtliche Darstellung dieser Stufen zeigt die folgende Grafik:
Die Darstellung verdeutlicht, dass SDD kein streng definierter Begriff ist, sondern auf einem Spektrum verortet werden kann:
- Im traditionellen (KI-unterstützten) Coding schreiben Entwickler:innen den Code. Künstliche Intelligenz kommt dabei lediglich unterstützend zum Einsatz – etwa bei der Codevervollständigung oder beim Refactoring. Die Spezifikation dient als lose Orientierung, hat aber keine technische Verankerung im Entwicklungsprozess.
- SDD Spec-First stellt den ersten Schritt in Richtung Spec-zentrierter Entwicklung dar. Hier wird initial mit einer Spezifikation gearbeitet, aus der die KI Code generiert. Dieser wird anschließend von Entwickler:innen manuell erweitert oder korrigiert. Die Spezifikation wird nach der Codegenerierung meist verworfen.
- SDD Spec-Anchored geht einen Schritt weiter. Auch hier generiert die KI auf Basis einer Spezifikation den Code, und auch hier greifen Menschen bei Bedarf korrigierend ein. Im Unterschied zu Spec-First bleibt die Spezifikation jedoch erhalten. Sie wird als aktives Artefakt gepflegt, aktualisiert und bei Änderungen erneut als Ausgangspunkt genutzt.
- SDD Spec-as-Source ist die radikalste Form des Spec-Driven Developments. Hier schreibt der Mensch ausschließlich die Spezifikation. Die KI generiert daraus den vollständigen Code. Dieser wird nicht mehr von Menschen angepasst, manuell geprüft oder überhaupt gelesen. Weiterentwicklung oder auch die Behebung von Bugs erfolgt durch Anpassungen an der Spezifikation. Der Code wird zur rein technischen Übersetzung, notwendig zur Ausführung, aber nicht mehr Ziel menschlicher Betrachtung. Die Spezifikation wird damit zum alleinigen, maßgeblichen Artefakt der Softwareentwicklung.
Je höher der Reifegrad, desto stärker verschiebt sich die Verantwortung von der technischen Umsetzung zur fachlichen Präzision. Die Qualität des Codes hängt dann nicht mehr von der Programmierleistung, sondern von der Klarheit und Vollständigkeit der Spezifikation ab. Das verändert nicht nur die eingesetzten Tools, sondern auch die Rollen im Entwicklungsteam. Fachlichkeit, UX, Architektur und Testlogik müssen von Anfang an strukturiert beschrieben werden.
4. Abgrenzung zur modellgetriebenen Softwareentwicklung
Spec-Driven Development erinnert auf den ersten Blick an ältere Konzepte wie die modellgetriebene Softwareentwicklung (Model-Driven Software Development, MDSD), bei der abstrakte Systemmodelle häufig in Form von UML oder domänenspezifischen Sprachen in Code übersetzt werden. Auch hier steht die Idee im Mittelpunkt, technische Implementierungen aus fachlichen Beschreibungen abzuleiten.
Der zentrale Unterschied liegt jedoch in der Flexibilität und Zugänglichkeit der Spezifikationen. Während MDSD häufig auf komplexen, schwer zugänglichen Modellierungsframeworks basiert, setzt SDD auf natürlichsprachliche, iterativ verfeinerbare Spezifikationen, die in direktem Austausch mit KI-Systemen erstellt und weiterentwickelt werden. Zudem zielt MDSD meist auf starre Generierungsregeln ab, während SDD durch die Interpretationsleistung der Sprachmodelle eine wesentlich dynamischere Umsetzung ermöglicht. Statt starrer Modelltransformationen stehen bei SDD adaptive, KI-gestützte Entwicklungsprozesse im Fokus – und das mit einer wesentlich niedrigeren Einstiegshürde für Entwickler:innen und Fachexpert:innen gleichermaßen.
Ein weiterer wesentlicher Unterschied betrifft die Reproduzierbarkeit: MDSD ist vollständig deterministisch: Die gleiche Modellbeschreibung führt immer zum gleichen Code. Das macht den Ansatz besonders verlässlich. SDD dagegen ist nicht deterministisch. Selbst bei identischen Spezifikationen können unterschiedliche KI-Generationen variierende Ergebnisse erzeugen. Je präziser und strukturierter die Spezifikation ist, desto reproduzierbarer wird das Ergebnis – dennoch bleibt der Prozess im Kern probabilistisch.
Gerade hier zeigt sich erneut die Abgrenzung zu Vibe-Coding: Während Vibe-Coding besonders stark unter mangelnder Reproduzierbarkeit und unscharfer Ergebnisqualität leidet, schafft SDD durch strukturierte und tiefgehende Spezifikationen deutlich mehr Stabilität und Vorhersagbarkeit, ohne jedoch jemals dieselbe deterministische Strenge wie MDSD zu erreichen. Damit positioniert sich SDD zwischen beiden Welten: Es kombiniert die strukturelle Klarheit eines spezifikationsorientierten Ansatzes mit der Flexibilität und Ausdrucksstärke natürlicher Sprache, ohne die Starrheit klassischer Modellierungsframeworks zu übernehmen.
Fazit & Praxistest
Spec-Driven Development setzt sich deutlich von bisherigen Ansätzen ab. Während Vibe-Coding sich auf schnelle Ergebnisse stützt, dabei aber stark unter mangelnder Reproduzierbarkeit und einer schwer steuerbaren Lösungsfindung leidet, bringt SDD Struktur und Klarheit in die Zusammenarbeit mit KI. Im Vergleich zur klassischen Softwareentwicklung verschiebt sich der Fokus vom Code hin zur Spezifikation, die nun zum zentralen Artefakt des Entwicklungsprozesses wird. Und im Gegensatz zu MDSD kombiniert SDD die Ausdrucksstärke natürlicher Sprache mit flexiblen, KI-gestützten Generierungsmechanismen um starre Modellierung zu überkommen.
Theoretisch klingt das nach einem überzeugenden Ansatz für effizientere und schnellere Softwareentwicklung. Doch wie gut funktioniert das tatsächlich in der Praxis? Können heutige SDD-Tools bereits qualitativ hochwertige Ergebnisse liefern, und lassen sie sich auch in professionellen Projekten einsetzen? Genau diesen Fragen gehen wir im zweiten Teil dieser Artikelreihe nach, in dem wir die Ergebnisse unserer Praxistests dreier aktueller SDD-Tools vorstellen.
Neugierig geworden, wie sich SDD-Tools im Praxistest schlagen?
Unseren Artikel dazu gibt es ab dem 18.12. exklusiv auf dem Senacor Blog.
